Letzten Monat war es nur ein Einziger gewesen. Diese Woche waren es schon mehr als ein Dutzend.
Es passierte immer plötzlich. Sobald ich nur kurz wegsah, konnte es schon passieren, dass mein Gegenüber sich plötzlich verwandelt hatte. Von einer Sekunde auf die Nächste stand vor mir Hitler.
Ich konnte es mir nicht erklären. Zuerst traute ich meinen eigenen Augen nicht, ob das wirklich sein konnte. Ich befragte also das Internet: Ich fand heraus, dass es immer mehr Linksgrünen so ging wie mir. Im ganzen Land sahen die gutmeinenden Linksgrünen überall Hitler.
Als es mir das erste Mal passierte, fragte ich einen Bekannten, wie er denn zur Wahl von Friedrich Merz stand. Er antwortete mir, er sei zuversichtlich, dass Merz die CDU wieder in ihrem konservativen Profil stärken würde und nun eine Abkehr von der bisherigen sozialdemokratischen Politik denkbar sei.
BAM! Auf einmal sah ich Hitler direkt vor mir. Sein spitzer Schnurrbart wirkte sehr merkwürdig im Gesicht meines Gegenübers.
Ein paar Tage später warnte ich am Mittagstisch mit meinen Kolleg*INNEN vor der Klimakatastrophe und sprach von den bevorstehenden Kipppunkten. Als priviliégierte Weißen sollten wir darauf verzichten, noch mehr Kinder zu bekommen. Schließlich sei das ungerecht für die Länder des Globalen Südens, die viel weniger Klimaschäden erzeugen würden und trotzdem viel mehr betroffen seien. Eine Kollegin war empört und entgegnete: Deine Klimapanik geht mir zu weit. Den Klimawandel kann man nicht über Verzicht lösen, sondern nur über kluge Anpassung und technologische Weiterentwicklung.
BAM! Wieder sah ich vor mir plötzlich Hitler! Hitlers Bart stand mitten in ihrem Gesicht.
Dann wurde es immer schlimmer. Plötzlich waren alle SUV-Fahrer Hitler. Am nächsten Tag auch alle anderen, die immer noch in den Urlaub flogen und Fleisch essen wollten.
Ich war plötzlich umgeben von Hunderten Hitler; nun gab es kein Entkommen mehr.
Es war furchtbar, ich traute mich nicht mehr aus dem Haus und schloss mich im Badezimmer ein.
Völlig aufgelöst rief ich meinen Ehemann an: Ich schilderte ihm von meinen entsetzlichen Erlebnissen. Doch er konnte mir nicht helfen.
Er sprach davon, dass ich eine falsche Vorstellung von Hitler haben könnte. Vermutlich würde ich Leute mit anderen Ansichten zu unrecht als Hitler sehen. Er könne mir psychologische Hilfe holen. Ich konnte ihm kaum noch verstehen, seine Stimme veränderte sich und wurde immer schriller und zorniger: Ein bruchstückhaftes Durcheinander über die arische Rasse, von Volksverrätern, irgendwelchen Zionisten und den Kampf für das heilige deutsche Vaterland.
Erschrocken schaltete ich das Telefon ab.
Mir wurde schwindelig. Ich versuchte mich festzuhalten und sah in den Spiegel: Hämisch lächelnd sah ich die Fratze von Hitler direkt vor mir. Ich begann zu schreien.
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Siehe auch: https://www.goodreads.com/book/show/58924298-scary-stories-to-tell-the-woke-in-the-dark